(Ver-)Wandeln im ureigenen Kleid
Simone Walter (Text), Annett Melzer (Fotografie)
„Ich finde es spannend, für Leute etwas zu nähen, was zu ihnen passt.“ Dass Christina sich dabei nicht einschränken lässt, verrät ihr Slogan „Gewänder aus allen Zeiten“. Die sich immer wiederholenden Modewellen der letzten Jahrzehnte empfindet sie als gesichtslos und uniform. „Man kann viel mehr machen, das Leben ist so viel bunter!“ Dabei schöpft sie ihre Inspiration aus der Bronzezeit ebenso wie von den Wikingern, aus dem Mittelalter oder dem Empire. Jedoch, ob es für einen feierlichen Anlass ist oder einfach für den Hausgebrauch – es muss bequem und alltagstauglich sein. Kleider, in denen man sich nicht gut bewegen kann, kommen für sie nicht in Frage. „Ich muss mit einem Kleid auch über einen mittelgroßen Bach springen können“, illustriert sie den Alltagsernstfall. Und wenn man ihre Gewänder mit den langen, schwingenden Röcken betrachtet, bekommt man Lust, genau das zu tun. Die zumeist figurbetonten Schnitte, das Oberteil oft durch eine schmückende Kordel an den Körper geschmiegt, verleihen Anmut ohne einzuengen. Oder wie es eine Kundin ausdrückte: „Man fühlt sich gehalten, ohne bedrängt zu sein.“
Erschwinglicher Luxus
Bei Christina kommen die Menschen auf ihre Kosten, die sich mehr wünschen als den Überfluss an billig produzierter Kleidung: Die „zweite Haut“, die genau auf sie und ihre Bedürfnisse zugeschnitten ist. Dafür nimmt sich Christina viel Zeit. „Mit dem Anprobieren meiner Prototypen, der Auswahl von Stoffen und Farben und dem Besprechen der Wünsche geht schnell ein ganzer Nachmittag rum“, erklärt sie. Der Aufwand spiegelt sich dennoch nicht im Preis wider, denn jeder soll sich ein schönes individuelles Kleidungsstück leisten können, findet sie. Dieser vorbereitende Prozess ist ihr für ein gutes Ergebnis wichtig: „Diese Zeit möchte ich mir nehmen und ich möchte auch, dass sich meine Kunden diese Zeit nehmen.“ Dabei machen die Kunden manchmal überraschende Entdeckungen. „Wow, ich bin zuhause!“ entfährt es da einer Frau, die gerade in ein elegantes Schnürkleid geschlüpft ist. „Und das sieht man dann auch“, bestätigt die Schneiderin, „sie hat plötzlich eine andere Haltung, bewegt sich anders.“ Manche genießen die neue Haut dann wirklich im Alltag, gehen damit auch in die Öffentlichkeit oder wühlen im Garten, andere kosten das neue Lebensgefühl eher für sich in den eigenen vier Wänden aus.
Bisweilen entsteht sogar ein Kleid, das
so weit ist, dass man damit reiten kann – der lange Rock legt sich
dabei wie eine Decke über den Pferderücken. Bei diesem Anblick
fühlt man sich in märchenhafte Welten wie die Artussage
hineinversetzt. Aus dieser ist auch der Name von Christinas
Schneiderei entlehnt, der den Zauber dieser Verwandlung spiegelt:
„Nimue“, die Fee, die in der Sage den Ritter Lanzelot aufzog,
schwingt hier den Stab der Wunscherfüllung: „Pling! Du hast jetzt
dein Lieblingskleid.“ Wie einst, als ihre Nichte flötete: „Ich
bin eine Prinzessin! Bitte, mach mir ein Kleid!“ Und die dann
nichts dabei fand, in ihrem neuen Prinzessinnenkleid mit dem Vater zum
Holz holen zu gehen. Für Christina ganz normal: „Sowas muss ein
Kleid aushalten.“
Mit Respekt für Material und Handwerk
Als Material verwendet sie hautsympathische Leinen- oder Wollstoffe, manchmal auch Mischungen aus beiden Materialien. Faltenbildung oder aufwändige Pflege sind für sie kein Thema. „Einfach nach dem Waschen kurz anschleudern und nass aufhängen – am besten draußen an einem sonnigen Tag, das genügt.“ Vielgenutzte Stücke steigern sogar ihren Tragekomfort, indem sie mit der Zeit immer weicher werden.
Ihre Liebe zu schönen Naturmaterialien und gutem Handwerk hat die leidenschaftliche Entdeckerin nicht von ungefähr zu den textilen Schätzen vergangener Epochen geführt. Die in allen Schritten handgefertigten Kleidungsstücke waren von hohem Wert, jedes Detail wurde mit Sorgfalt ausgeführt. Funktionale Teile wie Schließen waren gleichzeitig Schmuckstücke. Bei vielen Menschen bestand der „Kleiderschrank“ aus lediglich zwei oder drei Garnituren, die lange gepflegt wurden – ein Kleid für den Arbeitsalltag, eines für besondere Anlässe und vielleicht noch ein zweites Unterkleid. „Je mehr ich mich mit den historischen Vorlagen beschäftige, desto mehr wächst mein Respekt vor dem, was diese Menschen mit ihren Mitteln geschaffen haben,“ erklärt die Handwerkerin auf Spurensuche. Die Wikinger etwa waren mit ihren Kleidungsschnitten wahre Spezialisten im optimalen Ausnutzen der kostbaren Ressource Stoff. Bedingt durch die Bauart ihrer Handwebstühle hatten sie eher schmale Stoffbahnen, die auf ausgeklügelte Weise aneinandergesetzt komfortable Gewänder von praktischer Eleganz ergaben. Und auch in ihrer eigenen Werkstatt, in der sie mit zwei Overlock- und zwei normalen Nähmaschinen ihre Gewänder zaubert, bringt es die Schneiderin nicht fertig, Stoffreste einfach wegzuschmeißen. Was nicht in weitere Gewänder einfließt, erhält in Accessoires wie Stulpen ein neues Gesicht. „Meine Wertschätzung für Stoffe wächst auch durch meine Arbeit als Ergotherapeutin in einer Weberei.“ In der anthroposophischen Behindertenwerkstatt Birkenhof leitet Christina die Menschen zum Handweben an.
Handwerk als Erbe und Erfahrungsweg
Die Leidenschaft fürs Nähen war ihr praktisch in die Wiege gelegt worden: Mutter und Oma waren beide Schneiderinnen und besonders die Oma nahm sich viel Zeit, das früh aufkeimende Interesse der Enkelin zu fördern. „Ich habe angefangen zu nähen, als ich mit den Füßen an das Pedal der Nähmaschine kam und gleichzeitig oben auf die Nähmaschine gucken konnte“, schmunzelt sie. Dann war sie nicht mehr aufzuhalten. Erst wurden die Puppen eingekleidet, als Teenager begann sie dann, sich die Kleidung, die sie sich vom Taschengeld nicht leisten konnte, selbst zu nähen. „Meine Mutter war schlau, sie hat mir den Stoff gekauft und mich dann machen lassen.“ So lernte sie früh, sich schöne Dinge für wenig Geld leisten zu können, was auch später nützlich war. „Ich hatte nie viel Geld zur Verfügung, als mein Sohn klein war, habe ich nur stundenweise gearbeitet.“ Später eroberte sie sich Terrain auf vielen weiteren praktischen und handwerklichen Feldern, vom Hausbau bis zum Töpfern, vom Goldschmieden bis zum Bogenschießen. „Es gibt wenige Sachen, die ich noch nicht gemacht habe“, zwinkert die zierliche Frau. Dabei übte sie immer wieder, ihre Grenzen auszudehnen. „Im Hochseilgarten heulte ich am Anfang vor Angst.“ Heute arbeitet sie dort mit als Teamer, wenn Gruppen sich in die Höhe schwingen, um Koordination und Zusammenarbeit zu trainieren. „Dabei kriege ich immer die Schisser“, lacht sie, die sie jetzt aus der eigenen Erfahrung zum Erfolg führen kann. Und wie in einer zweiten Heimat ist sie auch beim Archäologischen Zentrum Hitzacker aktiv, macht Führungen im dortigen Freilichtmuseum und gibt Kurse in alten Handwerkstechniken.
Entfaltungsraum in der Natur
Mit der Schneiderei, die sie schon von Kindesbeinen an begleitete, ging Christina 2004 in die Selbständigkeit. Kurz zuvor war sie von Lüneburg aus aufs Land gezogen. Als sie aus ihrem gemieteten Domizil in Göhrde am Rande des Wendlands ausziehen musste, wagte sie den Schritt zu einem eigenen Haus. Am Elbufer nahe Hitzacker fand sie ein einfaches und stark renovierungsbedürftiges Gebäude. Mit ihrer praktischen Erfahrung und der tatkräftigen Unterstützung von Sohn und Freunden schaffte sie es in vier Wochen, den Ziegelbau von 1929 in einen bezugsfähigen Zustand zu versetzen. Seitdem ist sie dort mittlerweile seit zwei Jahren am Werkeln, schafft dort Stück für Stück mit viel Kreativität noch mehr Wohnqualität. Aus ehemals vier kleinen muffigen Zimmerchen ist ein großer, lichtdurchfluteter Raum geworden mit einem zauberhaften Ausblick auf den Garten und den vorgelagerten Weidenhain, dessen Wurzeln bei Hochwasser immer wieder von der Elbe umspült werden. Durchs Gras sieht man junge Rehe streifen und am frischen Grün der Büsche knabbern. Auch ein Biber kam bereits zu Besuch und hinterließ seine Duftmarke zu Füßen der menschlichen Nachbarin.
„Ich brauche einfach diese Ruhe und Weite zum Arbeiten“, erklärt die Handwerkerin aus Leidenschaft. Dass die Elbe schon zu ihr in den Keller gekrochen kam, schreckt Christina nicht. Bevor wir hinunter in den Garten gehen, Wildkräuter naschen und begutachten, was die letzte Flut sich einverleibt hat, wirft sich Christina eine kuschelige Kapuze aus Wollwalk über, die mit ihrer Pelerine auch die Schultern vor feuchtkalten Unbilden von oben schützt: „Die Gugel ist überhaupt das genialste Kleidungsstück!“ Ein schöner Gruß von unseren ebenso praktisch wie sinnlich begabten Verwandten aus dem Mittelalter.