Wollige Aussichten im Wendland

Simone Walter (Text), Annett Melzer (Fotografie)

Ute Luft mit ihrer Wolle von eigenen Gotlandschafen ist eine prototypische Vertreterin der Neusiedler im Wendland: Dynamisch, mit Pioniergeist, Experimentierfreude und Lust an schöpferischer Selbstversorgung. Dabei geht sie auch in die Tiefe, recherchiert Quellen und Herstellungsverfahren unserer Kleidung, sucht Wege einer Relokalisierung der Textilherstellung. Und spinnt ihre Fäden zu einer möglichen Neubelebung der textilen Tradition im Wendland.

„Die Schafe waren unsere ersten Tiere auf dem Hof“, berichtet Ute, die zusammen mit Mann Marcel und drei Söhnen 2006 einen seit zwei Jahren verwaisten Hof in dem kleinen Dorf Weitsche bezog. Das neue Gelände bot zehnmal mehr Fläche als der bisherige Garten, dazu Scheunen und Stallungen – und damit genug Entfaltungsraum für neue Entwicklungen. Zwanzig Jahre lang hatten die Lufts in ihrem Einfamilienhaus im Schwabenland gelebt und gewerkelt, nun war der alte Rahmen zu eng geworden.

Die Lust am Selbermachen

Wofür – das war noch gar nicht konkret geplant. Nach und nach begannen Ute und Marcel immer mehr der verfügbaren Flächen und Ressourcen zu nutzen. Neue Tiere kamen auf den Hof und sie eigneten sich immer weitere Fertigkeiten an, vom Gärtnern übers Brot backen, Bier brauen, Käsen bis zum Schlachten und Wursten. „Unsere Selbstversorgung hat sich so entwickelt, eins ergab sich aus dem anderen“, erzählt Marcel. Heute leben die Familie und Mitbewohner zu 80% von der eigenen Scholle, für die Winterzeit wird reichlich eingekocht, getrocknet, Saft und Wein hergestellt. Zu den Schafen haben sich ein paar Ziegen gesellt und eine Muttersau mit Nachzucht der alten Rasse Bunte Bentheimer. Ein paar Kaninchen wuseln im Freigehege und eine bunte Schar Hühner, Enten und Gänse flaniert über die Hofwiese.

Schafe als Mäher und Wolllieferanten

Die Gotländer Schafe spenden die Wolle für eigene Kleidung – aber der Anlass der Anschaffung war zunächst das Mähen der Hofwiese: „Das erste Mal haben wir das von Hand gemacht und da hatten wir die Faxen dicke!“ Und da Ute mit Schafen aufgewachsen ist und schon in ihrer Jugend am Spinnrad erste textile Experimente machte, war klar: Lebende Rasenmäher müssen her – am besten welche mit schöner Wolle. Vorgemacht hatte das bereits ihr Vater, der als Talsperrenmeister im Bergischen Land auch den grasbewachsenen Damm zu pflegen hatte. Das erste Mal mähte er ihn selbst – erst mit der Sense, dann mit dem Balkenmäher. „Das mach' ich nie wieder“, stöhnte er danach und legte sich statt dessen „Dienstheidschnucken“ zu, die künftig die Arbeit zu aller Zufriedenheit erledigten und sich, entgegen aller Unkenrufe, als robust und pflegeleicht erwiesen.

„Das war meine einzige Vorerfahrung, ich bin da völlig blauäugig rangegangen und dachte, ich werde das schon irgendwie geregelt kriegen“, lacht Ute. „Wir bekamen die Schafe von einem, der einen kannte, und der brachte sie dann mit – ich hatte keine Adresse, keine Papiere und keinen Plan wie es weitergeht!“ Macht nichts. Die Luftsche Art der Aufgabenbewältigung hatte sich schon oft bewährt: Für die jeweils akute Herausforderung eignet man sich das nötige Knowhow ad hoc an; für auftretende Probleme findet man kreative, effiziente und niedrigschwellige Lösungen. Und für alles gibt es hilfreiche Nachbarn, die man fragen kann.

Wolle für viele Zwecke

Die beiden Gotländer Mutterschafe mit Lämmern wurden die Stammhalter der kleinen Herde von heute dreizehn Schafen, die inzwischen so viel Wolle abwerfen, dass Ute sie zur Weiterverarbeitung an eine kleine Spinnerei im Sauerland schickt. Hier wird die vorsortierte Wolle gewaschen und mit Wasserkraft maschinell zu einem feinen Garn ausgesponnen. Die Wolle in den Naturtönen anthrazit und hellgrau eignet sich vor allem für luftige und dennoch wärmende Stricksachen wie Dreieckstücher, Schals, Handstulpen und leichte Pullis.

Von der schwedischen Insel Gotland stammend, wurde die speziell zur Wollerzeugung gezüchtete Pelzschafrasse früher im ganzen Ostseeraum gehalten. Bei den Lufts werden sie zweimal im Jahr geschoren. Die Winterwolle, die im April abgenommen wird, ist gekräuselt, etwas rau und fest, die Sommerwolle vom September ist glatter und länger mit schönem Glanz. Aber auch die Wolle anderer Schafrassen begeistern die Selbstversorgerin: „Die Wolle vom Coburger Fuchsschaf hat feine, rote Stichelhaare im weißen Vlies, was sehr hübsch aussieht.“ Das auch in der Region gehaltene Leineschaf mit seinem robusten Vlies liefert vor allem strapazierfähiges Garn für Socken oder Teppiche.

Ute pflegt bereits Kontakt mit anderen Schafhaltern und Wollverarbeitern im Landkreis, die auch gern mehr mit der heimischen Wolle machen wollen. Eine Betreiberin eines Archehofs sammelt, sortiert und wäscht größere Mengen Wolle, um sie dann bei einer weiteren Wollhandwerkerin maschinell kardieren zu lassen. Aber all das geschieht in kleinem Rahmen und ist noch keine Basis für die marktfähige Produktion heimischer Textilien als echte Alternative zur Allerwelts-Importware.

Textile Tradition und ihr Niedergang

Dabei hat das Wendland eine reiche Tradition als Textilstandort, der dem Landstrich vor 200 Jahren einigen Wohlstand beschert hat. Hier wurde viel Flachs angebaut, versponnen und zu hochwertigem Leintuch verwebt. In Lüchow gab es die „Leinenlegge“, eine zentrale Annahmestelle der Gewebe, die dort geprüft, in Qualitätsstufen eingeteilt, bepreist und gesammelt weiterverkauft wurden – eine frühe Art von Qualitätssicherung und gemeinsamer Vermarktung. Das Wendländer Leinen genoss international einen guten Ruf und stattliche Hofgebäude aus der Mitte des 19. Jahrhunderts zeugen noch vom damals erworbenen Wohlstand. Doch ab 1870 brach der Markt ein. Die Eisenbahn vernetzte allmählich das deutsche Reich, aber das Wendland blieb abseits der neuen, effizienten Verkehrswege. Und die dampfmaschinenbetriebenen Manufakturen mit mechanischen Webstühlen, die andernorts errichtet wurden, versetzten dem heimischen Handwerk den Todesstoß.

Aber auch die mittelständischen Textilbetriebe in Deutschland gediehen nur begrenzte Zeit. Mit dem Aufkommen der Kunstfaser und den billigen Textilimporten vor allem aus Asien schlossen fast alle heimischen Fabriken die Werkstore. Kleidung wurde zu einem Massenprodukt, dessen Rohfaser irgendwo auf der Welt unter umweltschädigenden Bedingungen produziert und dann oft um den halben Globus geschippert wurde, um woanders unter menschenunwürdigen Umständen zu Hemden, Hosen und T-Shirts genäht zu werden. Die dann, mit dem Label der großen Modemarken versehen, wiederum den weiten Weg in unsere Boutiquen und Kaufhäuser antraten.

Neue Werte – neue Märkte

Allmählich jedoch gibt es einen Trend zur Relokalisierung, denn nicht nur Ute hat angesichts dieses merkantilen Wahnsinns auf Kosten von Umwelt und Menschenleben das Unbehagen gepackt. Heimische Erzeugung bietet nicht nur die Chance, Kleidung zu guten Bedingungen für alle Beteiligten herzustellen, sondern auch die regionale Wirtschaft zu beleben. Utes Recherchen nach entsprechenden Bezugsquellen im deutschen Raum für die Dinge, die sie nicht selbst herstellen kann, offenbarten jedoch zunächst vor allem die Wüste im ehemals blühenden Textilerzeugerland. „Selbst die Anbieter von Öko-Mode beziehen ihre Wolle vor allem in Australien und Neuseeland und lassen in Asien produzieren“, konstatiert sie ernüchtert.

Besonders inspiriert hat Ute jedoch die couragierte Entrepreneurin und Quereinsteigerin Sina Trinkwalder mit ihrer Firma „manomama“. In ihrer von Null an aufgebauten Manufaktur am traditionellen Textilstandort Augsburg hat sie es mit unermüdlichem Optimismus geschafft, auch Zulieferer wiederzubeleben, so dass sie ihre Produktpalette an Kleidung von der Rohfaser bis zum Endprodukt fast durchweg aus heimischer Erzeugung anbieten kann. Und das teilweise auch schon für größere Abnehmer. Zudem schuf sie verlässliche und arbeitnehmerfreundliche Arbeitsplätze für auf dem Arbeitsmarkt benachteiligte Menschen.

Chancen im Wendland

Das Wendland bietet anders gelagerte Ressourcen, die Ute für eine textile Zukunft spannend findet. Auf den vielen Wiesen, an den Dämmen von Elbe und Jeetzel, auf verwunschenen Lichtungen zwischen Göhrde und Nemitzer Heide weiden jede Menge Schafe unterschiedlicher Rassen. Und auf der Produktionsseite gibt es eine große Zahl an kreativen Textilwerkern, von der Filzerin bis zum Maßschneider. Was fehlt, ist das Zwischenglied, die Verarbeitung der bisher weitgehend brachliegenden Ressource zum verarbeitungsfähigen Produkt, sei es kardiertes Vlies, Garn oder Stoff.

Gut verkaufen sich Kleidungsstücke aus Walkstrickstoff, den die Schneidernden bislang von entlegeneren Herstellern zukaufen. Das Material böte von der Aufwands-Ertragsbilanz ein reelles Potenzial, mutmaßt Ute: „Bis zur Strickwolle könnte man es locker stemmen.“ Für die Herstellung des nähfertigen Stoffs müsste man das Garn noch maschinenstricken und filzen. Die unterschiedlichen Wollfasern der verschiedenen Rassen böten zudem die Möglichkeit, ein Spektrum an Qualitäten und Naturtönen herzustellen, das auf dem Markt seinesgleichen sucht.

Mit Pioniergeist an die Ressourcen

Sohn Jonas ist von der Idee entflammt und zückt bereits den Stift: „Lass uns doch mal den Prozess optimieren! Ich hab jetzt vier Jahre studiert, irgendwas muss dabei rausgekommen sein.“ Und Ute hat bereits ein Buchprojekt im Visier, das die verschiedenen Schafrassen im Wendland vorstellt und beschreibt, welche Wollqualitäten für welche Zwecke geeignet sind. „Du kannst im Prinzip aus jeder Wolle etwas machen, du musst nur wissen, wofür sie taugt“, so ihr Credo. Einen weiteren Faserlieferanten hat sie für den eigenen Hof auch schon im Visier: Angorakaninchen. „Ich würde eine Rasse nehmen, die man nicht scheren muss, sondern wo die Wolle ausgezupft wird. Und dann verspinne ich sie zusammen mit der Gotlandwolle – das wird bestimmt extrem kuschelig!“

Das klingt zunächst nicht nach einem Ansatz für eine Textilwirtschaft, die dem Weltmarkt die Stirn bieten könnte. Aber „bei uns ist alles erstmal aus eigener Lust entstanden, das Vermarkten war nie die Triebfeder.“ Mit ihren Aktivitäten in Sachen Selbstversorgung und als kultureller Veranstaltungsort haben die modernen Pioniere jedoch bereits ein Netzwerk mitgeschaffen, das der wendland-typischen Stärke entspricht: Im mit 49.000 Einwohnern kleinsten Landkreis Deutschlands haben viele einzelne, kreative und engagierte Menschen in Sachen Kultur, Handwerk und Widerstand gegen das geplante Atommüll-Endlager bei Gorleben schon jede Menge Bemerkenswertes auf die Beine gestellt.

Noch weiden die Wollspender für den textilen Aufschwung des Wendlands nichtsahnend auf ihren idyllischen Wiesen und Auen. Und man spürt, dass Ute den Reichtum nicht nur in Geld bemisst, wenn sie verheißungsvoll lächelt: „Ich habe gehört, dass es hier im Landkreis über 1000 Schafhalter gibt.“