Schafsmilchlikör – der weiße Glückstropfen

Simone Walter (Text), Annett Melzer (Fotografie)

Auf seinem Kleinsthof in der dörflichen Idylle des Wendlands hat Giselher Kühn mit einer Handvoll Milchschafe sein persönliches Lebensglück verwirklicht – abseits der Zwänge vom Wachsen oder Weichen in der Landwirtschaft. Der Schlüssel zum Glück ist der inzwischen überregional bekannte Schafsmilchlikör „White Wendisch Liquor“, der bei Wendländern wie Feriengästen zum kultigen Genießerstöffchen avanciert ist.

Ausladend wölben sich die großen Eichen über die weite Schafskoppel. Gisis Pfiff gellt über die Weide. Es ist neun Uhr morgens, eine freundliche Zeit für den Beginn eines bäuerlichen Arbeitstages. Auch die Schafe haben es nicht besonders eilig, aber einige Augenblicke später, in denen die paradiesische Ruhe nur vom Rufen der Kraniche durchbrochen wird, sieht man die kleine Herde gemächlich um die Ecke biegen und im Gänsemarsch auf den Milchstand zuzockeln. Ein schwarzes Schaf ist besonders zutraulich. „Das ist ein ganz besonderes Tier,“ bemerkt Gisi, „das war eigentlich schon fast tot, weil sich die Mutter nicht richtig gekümmert hat.“ Er hat das entkräftete Lamm dann ins Haus genommen, wo es sich auf der Fußbodenheizung wärmen konnte und ihm Milch per Magensonde eingeflößt. Nach anderthalb Tagen war es so gut erholt, dass er es wieder zur Mutter gegeben hat und „sie hat es wieder angenommen! Und es hat sich dann sehr gut entwickelt.“

Die Quelle des Likörs

Heute gehört es mit zu den Lieferanten des wertvollen Rohstoffes für den „White Wendish“, den Gisi aus einem Drittel der ermolkenen Milchmenge seiner rund zwanzig Mutterschafe herstellt. Die anderen zwei Drittel werden zu einem fetaartigen Weichkäse verarbeitet, den man im Glas mit Olivenöl und mediterranen Kräutern veredelt in seinem kleinen Hofladen kaufen kann. „Aber die Haupteinkommensquelle ist der Likör“, schmunzelt Gisi.

In der Melksaison zwischen Ende April und Anfang September stellt er an zwei Tagen die Woche den süffigen Tropfen her – „aus entrahmter Milch, Doppelkorn, Gewürzen und Geheimnissen“, raunt Gisi durch die Locken seiner ungezähmten Mähne. Das Rezept flog ihm einst zu von einer Frau, die von ihm eine Weide für ihre sechs Milchschafe pachten wollte – und die vom in Likör gewandelten Ertrag ihrer Tiere leben konnte, indem sie ihn auf Märkten verkaufte. Sie orientierte sich dann beruflich um und überließ ihrem Kollegen das Rezept „für einen Appel und ein Ei.“ Der Schafbauer nahm sich der glücklichen Fügung beherzt an und baute sich die Nische aus, die für ihn die Basis zu einem guten Leben wurde.

Wilde Jugendjahre

Gut leben – das bedeutet für den Kleinbauern aus Leidenschaft vor allem, auch Zeit für Dinge jenseits der Arbeit zu haben. Freunde treffen, Zeit mit der Liebsten verbringen oder einfach bei einem gemütlichen Kaffeehock zu entspannen. In seinem Werdegang hat Gisi genug andere Beispiele kennengelernt, die ihm keine lebenswerte Perspektive aufzeigten oder fragwürdige Ziele verfolgten.

Aufgewachsen im Landkreis, brachte er die Schule mit mäßiger Begeisterung hinter sich. Nach dem Realschulabschluss begann er zusammen mit einem Freund eine Lehre zum Rundfunkfernsehtechniker. In einer großen Land-WG in Kolborn verbrachten sie eine „wilde Zeit“ mit durchzechten Nächten auf der Suche nach der richtigen Lebensphilosophie – „und irgendwann hatten wir keinen Bock mehr darauf, irgendwelche Fernseher zu reparieren, auf denen die Leute Dallas guckten.“ Gemeinsam schmissen sie die Lehre hin und flüchteten vor der Einberufung zum Bund nach Berlin. Doch der Einberufungsbescheid kam – an die letzte bekannte Adresse, zu Gisis Eltern. Die nahmen ihn an und der Wahlberliner sah sich genötigt, doch noch zur Musterung zu erscheinen. „Ich hatte Angst, dass sie mich an der Grenze aufschnappen – und als Fahnenflüchtiger ist man automatisch vorbestraft.“ Dass er gar nicht hätte erscheinen müssen mit seinem grünen Personalausweis der damaligen Exklave Berlin erfuhr er drei Tage später, da war es dann schon zu spät. Aber er wurde in der Armee unerwartet freundlich empfangen: „Hoffentlich leben Sie sich noch ein, Ihre Kameraden sind ja schon drei Tage da.“ Und auch die Folgezeit gestaltete sich recht angenehm, in der er etwa als Chauffeur den Militärpfarrern auf ihrer Bundesversammlung entspannte Gesellschaft leisten durfte.

Die Suche nach dem richtigen Weg

Es blieb ihm die Muße darüber nachzusinnen, in welche Richtung er künftig steuern wollte und klar wurde: „Ich will irgendwas machen, was auch wichtig ist im Leben und was die Menschen auch wirklich brauchen.“ Das entdeckte er in der Landwirtschaft, denn „essen und trinken müssen die Leute immer – und es ist ein grüner Beruf, das fand ich toll.“

Um sich ein umfassendes Bild zu machen, verbrachte er das erste Jahr seiner landwirtschaftlichen Ausbildung auf einem konventionellen Kartoffelanbaubetrieb, und wechselte dann auf einen Biohof, der neben Ackerbau auf Sauenvermehrung spezialisiert war. „Der Bioanbau gefiel mir wesentlich besser, ich habe mich auf dem Hof auch schnell heimisch gefühlt.“ Der Hof in Zargleben war einer der ersten Biohöfe im Wendland und der angehende Bauer erinnert sich: „Die ersten Kartoffeln haben wir da von Hand rausgemacht und der NDR hat uns dabei gefilmt.“

Was Gisi weniger gefiel, war die Wachstumsspirale, die er auf diesem Hof exemplarisch miterlebte. „Der Hof hatte hundert Muttersauen – das war damals schon viel.“ Und dann wurden es immer mehr, auch die Ackerflächen wuchsen, dazu der Maschinenpark. „Wenn du einmal auf dieser Schiene bist, kommst du da nicht mehr raus. Du musst Kredite aufnehmen und dann immer durch wachsende Einnahmen bedienen.“

Mit Schafen in die Selbständigkeit

Mit dem Kauf einer Herde Milchschafe und der Einrichtung einer Käseküche wollte der Bauer sich ein weiteres Standbein aufbauen. Das erwies sich jedoch als unrentabel und für Gisi eröffnete sich die Chance zur Selbständigkeit, als sein Chef anbot, ihm die Herde mit der Ausrüstung zu verkaufen.

Ab da war er Schafbauer und zog mit seiner Herde in das kleine Rundlingsdorf Diahren, wo er 1990 einen alten „Hof mit Oma“ kaufte, die darin Wohnrecht auf Lebenszeit besaß. Seine zwanzig Schafe molk er anfänglich mit der Hand, aber die Arbeit strapazierte die Sehnen, so dass er bald auf eine kleine transportable Melkmaschine umstieg. Den denkmalgeschützten Hof restaurierte er nach und nach in Eigenarbeit.

Seine Mitbewohnerin starb wenig später, wie viele der Nachbarn in dem überalterten Dorf. „Nach drei Jahren stand das halbe Dorf leer, und der Rest war auch schon betagt – es war eine dramatische Situation.“ Gisi gehörte zu den jüngsten Einwohnern – und war für Ansiedlungswillige immerhin ein wichtiger Aktivposten. Als schließlich ein weiteres Paar ins Dorf zog und ein Hofcafé eröffnete, ging es allmählich aufwärts.

Mit dem Likör zur Marktreife

In der Zwischenzeit hatte Gisi sich, gemeinsam mit seinem damaligen Kompagnon, aufgemacht, mit dem neuen flüssigen Schafsprodukt den regionalen Markt zu erobern. Der erste Versuch, damit auf dem Lüchower Stadtfest zu landen, schlug jedoch kläglich fehl. „Mit einem bunten, selbstgemalten Schild „Schafsmilchlikör zu verkaufen“ standen wir da – und die Leute sind alle an uns vorbeigelaufen.“ Keiner konnte sich vorstellen, dass ein Schoppen aus Schafsmilch genießbar ist. Das Ganze musste offenbar anders verpackt werden – beginnend mit dem Namen. In nächtlicher likörinspirierter Sitzung ersannen die wackeren Entrepreneure den neuen Namen „White Wendish Liquor“. So smooth wie der neue Titel von den Lippen perlt, gestaltete sich nun das neue Marketing. Auf dem nächsten Fest liefen sie mit Probiergläschen der „wendländischen Likörspezialität“ durch die Besucher – „und 95% der Verkoster waren schwer begeistert!“ frohlockt Gisi.

Es folgte ein halbseitiger Artikel im Lokalblatt, der Elbe-Jeetzel-Zeitung, der von der dpa aufgegriffen wurde. Nun verbreitete sich die Kunde in der ganzen Republik – „aus dem tiefsten Bayern erhielten wir Anfragen!“ Pro 7 filmte einen ganzen Tag auf dem Hof und in der Hitzackeraner Disco Lascaux, wie die Jungunternehmer ihren Stoff unters Volk brachten. „Dann gaben sich die Medien die Klinke in die Hand“, berichtet Gisi, „allein der NDR war fünf- oder sechsmal da.“

Ziel Lebensqualität

Er hätte den Medienrummel nun als unternehmerisches Sprungbrett in eine neue Dimension nutzen können und sein Kompagnon zeigte Ambitionen dazu: „CocaCola hat auch mal klein angefangen!“ Aber Gisis Ding war das nicht. „Ich wollte lieber klein und überschaubar bleiben und auch mal was anderes machen können.“

So blieb es auch bei den Schafen, obwohl sein Ursprungstraum mal ein buntes Hofleben mit Hühnern und Gänsen, Schafen und Schweinen gewesen war. Auch das erträumte Familienleben hatte sich als weniger erfüllend gestaltet, als erhofft. Doch inzwischen hat Gisi ein reges soziales Umfeld, das einer Wahlfamilie gleicht. In den letzten Jahren zogen immer mehr junge und junggebliebene Menschen voller Pioniergeist ins Dorf, restaurierten die alten Höfe und schufen ein blühendes Dorfleben. Nachbar Gero, Lokalmatador, leidenschaftlicher Gärtner und Koch lädt die Dorfbewohner jeden Donnerstag zum Mittagessen ein. Bis zu vierzig Menschen allen Alters tummeln sich dann auf seinem Hof und lassen es sich stundenlang in geselliger Runde gutgehen. Die Nachbarn wiederum besuchen Gisi gerne zum Billardspielen. Und am Sonntag trifft sich auch der weitere Umkreis im Dorfcafé bei Katrin und Oliver. „Seit Jahren haben wir jetzt Wohnungsnotstand, weil alle hierher ziehen wollen“, lacht Gisi.

Der Klang des Glücks

Bei schönem Wetter sitzen die Dörfler auch gern beim Kaffee vor Gisis kleinem Hofladen unter den alten Eichen. Außer Likör und Schafskäse gibt es dort von Januar bis Mai auch Schafsalami, Mortadella und Jagdwurst, sowie pflanzlich und schadstofffrei gegerbte Schaffelle, die sogar waschbar sind. Speziell für die Touristen hat Gisi jetzt auch kleine Flaschen White Wendisch im Angebot, denn viele wollen den Stoff lieber erstmal in kleinerer Menge probieren. Und werden dann meist schnell zu Wiederholungstätern.

Der flüssige Botschafter mit dem urwüchsig gehörnten Schafskopf in der Wendlandsonne, dem Rebellensymbol der „Republik Freies Wendland“ auf dem Etikett, dürfte dem erfüllenden und entspannten Lebensgefühl in diesem Landstrich ein paar dicke Tropfen hinzugefügt haben.

Das Telefon klingelt: „Zwölf Flaschen White Wendish für die Hochzeit? – Geht klar!“ Man kann den Sound dieser Lebenszutat förmlich hören: Glückglückglück ...

Uund hier geht es zum Shop von Giselher Kühn .