Zuhause im Kultiversum

Simone Walter (Text), Annett Melzer (Fotografie)

Wenn man über die Schwelle des Hauses von Mareike Scharmer in dem kleinen Rundlingsdorf Beesem tritt, gerät man in ein magisches Paralleluniversum.   Die Normalität muss leider draußen bleiben. Denn hier ist das Reich pulsierender Kreativität, das alle Lebensbereiche durchdringt – und einen verzaubert und aufgetankt wieder entlässt.

Bereits die kleine Veranda am Eingang empfängt den Besucher mit einem Sinnspruch, der erahnen lässt, welches Abenteuer ihn erwartet. „Auf eigene Gefahr“, müsste noch ergänzt werden, denn ab hier ist nichts mehr wie es der normierte Alltagsgeist gewohnt ist. Es tun sich Räume auf, in denen buchstäblich alles zu leben scheint. Farben leuchten, Formen wabern, Ornamente tanzen – der ungläubige Verstand weiß kaum, wohin er zuerst gucken und wie er dieses Feuerwerk von Eindrücken einsortieren soll, während die Seele schon juchzend losgelaufen ist, um mit all den Gestaltungen ausgelassen zu spielen.

 

Werken und Wirken

Mareike Scharmer, unerschöpfliche Quelle dieses Feuerwerks, führt durch ihre Werkstatt. Für eine Kundin in Saarbrücken hat sie gerade eine Küche in Arbeit. Frische Grüntöne sind organisch strukturiert aufgetragen wie Flechten, die die Oberflächen überwachsen haben. Türen greifen in geschwungenen Formen ineinander, Schrankkörper wachsen hier schmäler, dort breiter in die Tiefe. Drei unterschiedlich bestückte Akkuschrauber fiebern auf der Werkbank ihrem Einsatz entgegen. Dutzende kleiner und größerer Schubläden bergen in ihrem Innern den Sternenstaub, aus dem Mareike schöpft, um immer neue Lebenswelten zu erschaffen. „Räume sind etwas Großartiges“, erklärt sie mit leuchtenden Augen, „ das hat was mit selbstbestimmtem Leben zu tun – um dich herum alles so zu machen, wie es dir gefällt und nicht darauf angewiesen zu sein, was die anderen dir anbieten.“

Wie in Hermann Hesses Gedicht „Stufen“, das von einer Tür lächelt, durchschreitet man heiter Raum um Raum, um immer neue Entdeckungen zu machen. In einer Ecke kugeln sich ganz wundersam filigran durchmusterte Perlen auf einer Werkfläche, an der Wand darüber liegen sorgsam in Fächern gestapelt die quaderförmigen Rohstoffe: Fimo! Diese vielen seit Kindertagen bekannte Knetmasse wird unter Mareikes Händen mithilfe einer Nudelmaschine zu vielschichtigen Kunstwerken geformt, die nur wenig mit den Bällen und Bäumen zu tun haben, die Normalos daraus prökeln, ehe sie sich dem nächsten Legobaukasten zuwenden. Manche dieser Ornamente finden sich als Oberflächengestaltung wieder auf Klorollenhaltern, Aufbewahrungsboxen oder Briefkästen.

Fülle des Alltagslebens

Alles hat hier mehrere Dimensionen. Eine Treppe ist nicht lediglich Aufstiegshilfe, sondern ein Seelenlift: Die Stirnseiten sind verblendet mit einem in Streifen geschnittenen Kunstwerk, das sich optisch wieder zusammenfügt, ehe man sich stufenweise, von unterschiedlichen Botschaften begleitet, emporbewegt.

Die Nähwerkstatt, hell erleuchtet von Fenstern nach Osten und Süden, lässt die Sinne jedes Individuums vibrieren, das irgendwann mal mit Freude Nadel und Faden geschwungen hat. Ein Regenbogen an farblich sortierten Stoffen zieht sich über die Wand. Eine Kiste quillt über von Umhängetaschen und -beuteln aus gemusterten Polsterstoffen, mit Bordüren, Kordeln und Knöpfen wie aus Tausendundeiner Nacht.

Auch die Wohnbereiche sind durchpulst von leuchtenden Farben, durch riesige Bullaugen lugen vorbeischwimmende Fische oder gar Neptun persönlich herein. „Du bist wie ein Vulkan, der immer brodelt, hat mal einer zu mir gesagt – das fand ich ein tolles Kompliment“, feixt die Künstlerin mit dem eruptiven Haarwerk. „Bei mir schläft die Kreativität nie!“

Erlernen, erproben, er-wachsen

Die Liebe zu Farben und der Drang, die Welt um sich herum zu gestalten, begleitet Mareike schon seit Kindertagen. Aufgewachsen im Landkreis, in Gartow an der Elbe, zog es die kreative Jugendliche nach der Realschule erstmal in die Großstadt. „Ich wollte eigentlich gar nicht von hier weg, aber es gab hier keine Perspektive für mich“, erinnert sie sich. „In der Schule gab es zum Beispiel weder Kunst- noch Musikunterricht.“ An der Fachoberschule für Gestaltung in Hannover blühte sie dann auf: „Hier konnte ich endlich malen! Und habe dann noch tausend verschiedene Praktika gemacht, am Opernhaus, in einer Hutmacherei, in verschiedenen Schneidereien. Ich habe sogar mal für Boney M Klamotten genäht“, zwinkert sie. Die anschließende Wartezeit auf einen Studienplatz für Grafikdesign füllte sie mit einer Zimmermannslehre in Gartow – eine solide Grundlage für alle späteren Holz- und Hausbautätigkeiten: „Wir haben da richtig tolle Fachwerkhäuser gebaut!“ Dann ging es akademisch in Hildesheim weiter. Das Grafikdesign-Studium ließ jedoch den Wunsch nach handfesterer Gestaltung offen, so wechselte Mareike ins Studienfach Architektur an der Fachhochschule Hamburg.

Als Künstlerin und Kunsthandwerkerin wagte sie dann auf dem Hamburger Pflaster den Sprung in die Selbständigkeit und verkaufte auf Märkten ihre selbstgenähten Kleider und Kissen. Dabei wirbelte sie nicht nur auf ihren eigenen Baustellen, sondern auch in verschiedenen Jobs, um Lebensunterhalt und Werkstattmiete finanzieren zu können. „Zeitweise habe ich in fünf verschiedenen Jobs gleichzeitig gearbeitet – in einer Tischlerei, einer Tankstelle, in der Gastronomie, im Sportverein und einige Jahre in der Vermessung. Zehn Jahre lang war ich bei der Arbeit immer draußen, das war toll!“

Raum zur Raumschöpfung

Das Anmieten einer 350 qm großen Werkstatt in Hamburg-Stellingen zu relativ günstigen Konditionen und gemeinsam mit ihrem damaligen Partner eröffnete dann den Raum für größere Projekte. „Hier habe ich riesige Wandbilder und große Podestlandschaften gemacht“, schwelgt die Künstlerin. Die Aufträge kamen von Schulen und vor allem von den Hamburger Büchereien. „Da durfte ich die Kinderbereiche gestalten und hatte dabei weitgehend freie Hand.“ Entstanden sind dabei ganz verschiedene Spielwelten, von der mittelalterlichen Burg über orientalische Gemächer, bunte Wiesenlandschaften bis zum geheimnisvollen Dschungel. Und überall wuseln und flanieren darin freundliche, neugierige oder wunderliche Gestalten. Präsent ist Mareike auch im agilen Stadtteil Winterhude mit einem 20 m langen Schaufenster, in dem man Einblicke in die verspielten Wohnwelten mit den von ihr ersonnenen Produkten bekommt. „Das ist ein echter Hingucker, jeder dort kennt dieses Schaufenster“, freut sich die Kreativvirtuosin.

Aber das Leben im Großstadtlärm ging Mareike, die die Idylle des Wendlands im Herzen trug, auch an die Substanz. Und nachdem bisher der ganze Verdienst von teuren Mieten und Lebenshaltungskosten aufgezehrt wurde, wollte sie sich etwas Bleibendes schaffen. Sie machte mehrere Versuche, wieder auf dem Land Fuß zu fassen. Auf intensiver Hofsuche schließlich entdeckte sie einen Platz, bei dessen Anblick ihr die Erinnerung klingelte: „Hier in Beesem habe ich 1996 bei der Kulturellen Landpartie mitgemacht und von dort aus über diese Wiese mit dem Löwenzahn geschaut. Ist das schön, dachte ich, sowas will ich auch haben!“ Nun stand genau dieses Grundstück mit Haus zum Verkauf und Mareike zögerte nicht lange. 2009 wurde es zu ihrer neuen Wirkungsstätte, neben dem Hamburger Domizil, und sie begann, das zunächst unbewohnbare Bauwerk Stück für Stück zu renovieren.

Schließlich setzte sie, damit man sie in dem abgelegenen Rundling besser findet, noch eine bunte Duftmarke an die Durchgangsstraße und machte aus der maroden Bushaltestelle eine leuchtende Kultinsel. Die jüngeren Kinder waren begeistert, die Jugendlichen fanden das erstmal uncool. Aber die Malerei wurde nie beschädigt und heute freuen sich nicht nur die Wartenden, sondern auch die Passanten an dem Serotoninkick in der verträumten Wiesenlandschaft.

Alles ist Quelle und kreativer Rohstoff

Das Konglomerat aus Werkstätten, Lebensräumen und Experimentierfeldern in dem kleinen Gebäude platzt inzwischen aus allen Nähten. Und die Entfaltungsräume weiten sich aus in die dahinterliegende Scheune. „Ich kann ja nix wegschmeißen“, grinst die Alltagsschöpferin, unter deren kreativen Händen auch die banalsten Dinge ein neues Antlitz bekommen. Was im Bad aussieht, wie ein überdimensionales Insektenhotel, sind säuberlich aufgestapelte Klorollen in einer Kiste. Es kann einer Klorolle wohl nichts Besseres passieren, als in Mareikes Haushalt zu geraten: „Daraus will ich Gesichter basteln.“ Und sie bewegt eine faltig gefurchte Rolle, in der man bereits verschiedenste Wesen erahnen kann.

„Das Tolle ist, dass du aus allem irgendwie was machen kannst“, strahlt sie. Die überschäumende Quelle aus dem Innern scheint dabei durch äußeren Mangel nur befeuert worden zu sein. „So ist es, wenn man kein Geld hat,“ grinst sie „ich jammer da nicht rum, dass ich was nicht kriege, ich machs mir einfach selbst.“ Und setzt hinzu: „Die Problematik ist nur, man bräuchte einen Tag, der 48 Stunden hat ...“ Seit ihr 1996 der Fernseher kaputt ging, hat sie das astronomisch verfügbare Kontingent immerhin voll ausgereizt. „Als der Fernseher weg war, fühlte ich mich so befreit! Jetzt hast du den ganzen Abend Zeit, um noch was richtig anzufangen“, drehte sie auf – und arbeitet seither regelmäßig von frühmorgens bis abends gegen zehn durch, auch am Wochenende. Urlaub ist schon zum Fremdwort geworden. „Ich bin so'n bisschen kreativer Junkie“, diagnostiziert sie lachend.

Lebensräume als Inspiration

Gerne arbeitet sie auch mit ihren Schwestern zusammen, die beide ebenfalls wieder ins Wendland zurückgekehrt sind. Mit Antje, der älteren, die selbständig als Weberin arbeitet, bespielt sie ab 1. Oktober bis Weihnachten mit Ausstellungsverkauf und Workshops einen leerstehenden Laden in der Kreisstadt. Auch der Bruder Dirk Scharmer gestaltet kreative Lebensräume, als einer der ersten Architekten für ökologischen Strohballen-Hausbau.

Regelmäßig stellt die Lebensraum-Gestalterin fest, wie andere sich von ihrem schöpferischen Umfeld anregen lassen: „Die meisten Leute gehen hier fröhlich und aufgetankt wieder raus.“ Dennoch begegnet sie oft Menschen, denen die eigene urkreative Ader suspekt zu sein scheint. „Die Mütter freuen sich immer fürchterlich über meine Sachen, aber trauen sich das eher, wenn sie als Rechtfertigung die Kinder haben“, bemerkt Mareike. Und wünscht sich mehr Mut zur inneren Spielwiese: „Ich finde es total natürlich, wenn ein Erwachsener seine Kinderseele erhalten hat – dann erst finde ich ihn erwachsen.“

Als Sprungbrett dorthin hat sie bereits eine Idee: „Was ich mir wünsche, ist ein Kultcafé, wo die Leute eintauchen können in eine andere Welt.“ Und mit dem Feuerwerk an frischen Impulsen das eigene Leben befruchten.

Und hier geht es zum Shop von Mareike Scharmer.