Der Kompass: Mehr Lebensqualität für Mensch und Tier

Simone Walter (Text), Annett Melzer (Fotografie)

Landwirtschaft, Hausbau, Sozialarbeit, Textilbetrieb, Werbeagentur – vieles erschien als experimentelles Mäandern im Leben von Frank Hübner und Andrea Makansi, bis sie begannen, den Archehof Vockfey in der niedersächsischen Elbtalaue aufzubauen. Als roter Faden zieht sich dabei die Liebe zum Land und das Streben nach einem guten Umgang mit Erde und Menschen durch den Lebensentwurf der beiden idealistisch gebliebenen Praktiker.

Das große Vierständer-Fachwerkhaus am Elbdeich inmitten der weiten Auenlandschaft strahlt die grundsolide Sicherheit eines alten, in traditionellem Zimmermannshandwerk errichteten Gehöfts aus, das für die Ewigkeit geschaffen scheint. Seit Jahrhunderten steht es hier am großen Fluss, hat Generationen von Menschen beherbergt, viele Fluten kommen und gehen gesehen. Und doch hat es gerade in jüngster Geschichte großes Glück gehabt, wie die Ruinen und Ziegeltrümmer abgerissener Nachbarhäuser bezeugen. Das Dörfchen Vockfey bestand einst aus etwa 30 solcher Höfe, die wie eine Perlenkette am Deich aufgereiht standen. Geblieben sind gerade noch vier davon, die übrigen wurden zwischen den 50er und 70er Jahren als grenznahe Bebauung zum Klassenfeind dem Erdboden gleichgemacht, nachdem seine Bewohner zwangsumgesiedelt wurden. Nach der Wende wurde ein Gedenkstein für diese Aktion politischer Willkür errichtet und den noch lebenden Besitzern das ehemalige Eigentum rückübereignet – zumeist war es nur noch das Grundstück mit den Abbruchresten.

Der Hof, der Franks und Andreas Heimat werden sollte, überstand die Verheerung, weil er von der örtlichen LPG genutzt wurde. Nach der Wende war er einige Zeit unbewohnt, wie viele andere Höfe der Gegend. Auf Beutezügen räumten Plünderer alles aus, was nicht niet- und nagelfest war – von alten Beschlägen über Fliesen bis zum Treppengeländer. Nach zehn Jahren im Besitz eines westdeutschen Käufers, der dem alten Bauwerk wenig fachkundig zu Leibe rückte, nähert sich der alte Hof nun wieder seiner ursprünglichen Würde an und gewinnt den hohen Wohnwert, den die Sanierung und der Ausbau mit traditionellen Materialien auf natürliche Weise schaffen. „Das kann man sich gar nicht vorstellen, was mit so einem alten Haus auf einen zukommt“, berichtet Frank, „das ist genau wie mit Kindern – man weiß es erst, wenn man sie hat.“

Von Jugendträumen ins Lebensabenteuer

Dass er zusammen mit Partnerin und Kindern mal im strukturschwachen Niemandsland ein solches Hofprojekt stemmen würde, war ihm nicht in die Wiege gelegt worden. Frank, aus einer Kleinstadt in Westfalen stammend, hatte keine familiären Bindungen zum Bauerndasein. Doch nach der Schulzeit bewegte nicht nur ihn die Sehnsucht nach einem alternativen Lebensstil gegenüber dem, den die Elterngeneration vorlebte. Traum war ein selbstbestimmtes, naturnahes Leben in einer Hofgemeinschaft, der dazu führte, dass er zunächst eine landwirtschaftliche Ausbildung machte. Die Hoffnung auf eine Verwirklichung zerstob allerdings nach und nach. Vom Freundeskreis konnte sich keiner der Entflammten entschließen, Ernst zu machen und im ganzen Umfeld bekam der hoffnungsvolle Jungbauer nur zu hören, dass man heutzutage von Landwirtschaft nicht mehr leben könne. Schließlich schwenkte er um, zog nach Bielefeld zum Soziologiestudium und genoss das Studentenleben.

Der Bezug zur Landwirtschaft ließ ihn jedoch nicht los. In der Uni Göttingen wechselte er ins Studienfach Völkerkunde mit Spanisch und Landwirtschaft im Nebenfach, um anschließend als Agrarberater nach Chile zu gehen. In dem facettenreichen Entwicklungsprojekt ging es nicht nur um Schaf- und Bienenzucht, sondern auch darum, den Jugendlichen in den Dörfern wieder Anbindung an ihre kulturellen Wurzeln zu verschaffen. Die Rückbindung an Traditionen sollte für seinen eigenen Werdegang noch ungeahnte Bedeutung gewinnen.

Neue Wege und Arbeitsfelder

Zurück in Deutschland fasste der Landwirt mit Ethnologie-Magister zunächst auf einem Hof in der Südheide Fuß, der mit einer großen Herde von über 1000 Heidschnucken Landschaftspflege betrieb. Anderthalb Jahre hielt es der nach seiner Berufung Suchende dort aus. „Ich saß dort fast den ganzen Tag auf dem Trecker – das hat zwar Spaß gemacht, aber ich wollte selbstbestimmter arbeiten.“ So rutschte er zum Jobben in einen kleinen Baubetrieb hinein, der auf ökologische Fachwerksanierung spezialisiert war. „Das war eine lustige Combo“, erinnert sich Frank, „der einzige, der kein Abitur hatte, war unser Chef.“ Ungeplant wurden auch hier anderthalb Jahre aus der Zwischentätigkeit, bis klar war, dass auch dieser Weg nicht die richtige Perspektive bot – „ich wollte nicht auf dem Bau alt werden.“

Der Kopfarbeiter regte sich wieder in ihm: Nächste Station war das Rheinland und die Umschulung zum Mediaplaner. Als frischgebackener Marketingfachmann ging er nach Hamburg in die Filiale einer Firma, die wenig später mit einem Augsburger Medienunternehmen fusionierte. Das war der Moment, an dem sich die Wege von Frank und Andrea, die für die Partnerfirma tätig war, kreuzten „und so sind wir dann auch fusioniert,“ schmunzelt Frank.

Fusion mit Perspektive und neuen Ideen

Andrea arbeitete dort als Grafik-Designerin und schnell fanden die beiden heraus, dass sie sich auch fachlich gut ergänzten. Dem Wunsch nach mehr Autonomie folgend, gründeten sie in Augsburg eine eigene Werbeagentur. Gemeinsam verfolgten sie das Konzept, der noch in den Kinderschuhen steckenden Branche der Bio-Lebensmittel auf die Sprünge zu helfen. „Vieles in der visuellen Darstellung war noch unprofessionell und handmade“, berichtet Andrea „und die Unternehmen, die ins Marketing investierten, orientierten sich an dem, was die Konventionellen machten.“ Mit der Idee, statt dessen über Wertemarketing Kunden zu binden, wollten die beiden die Öko-Betriebe auf eine aussichtsreichere Schiene setzen. Es war allerdings schwer, die jungen Bio-Unternehmer von dem neuen Konzept zu überzeugen und so kam zunächst eine andere Geschäftsidee ins Rollen.

Ausgangspunkt war die Titelgeschichte eines Magazins, das auf einer Autobahnraststätte auslag. Die damals beruflich viel umherreisenden Jungunternehmer griffen einen von „Hundert Tipps für eine bessere Welt“ auf: „Kaufen Sie ökologisch produzierte Textilien.“ Den beiden war bewusst – die vorherrschenden Produktionsbedingungen für Kleidung sind sowohl ökologisch als auch sozial katastrophal. „30% der Pestizide werden beim Anbau von Baumwolle eingesetzt und die Arbeitsbedingungen der allermeisten Hersteller sind vollkommen menschenunwürdig“, konstatiert Frank. Damals, 2005, war es allerdings gar nicht so einfach, an Alternativen heranzukommen. Es gab kaum Anbieter und „der Öko-Schick im Textilbereich war noch sehr speziell.“ Was tun? „Meine Güte, dann müssen wir selber was machen!“ so das unerschrockene Fazit der beiden Entrepreneure.

Projekte und Geburtswehen

Designerin Andrea entwickelte Entwürfe zusammen mit einer Schnittdirektrice und in Kooperation mit dem Katholischen Landjugendverband gaben sie die T-Shirts bei einer Näherei in Kenia in Auftrag. Leider ließ jedoch die Qualität der Verarbeitung zu wünschen übrig und die fertige Ware musste zurückgeschickt werden. Ein Kontakt zu einem weiteren Textilprojekt in Indien über die Initiative Dritte-Welt-Partner erwies sich als erfolgreicher. Zudem hatte die indische Nähwerkstatt gerade eine Naturland-Zertifizierung erworben. So gelang es Andrea und Frank, als einer der ersten Anbieter von Kleidung nach ethischen Standards mit Bio-Zertifizierung auf den Markt zu gehen. Im eigenen Hause entstanden das Textillabel und der Webshop www.moreethics.de. Dieser Schritt kostete allerdings nicht nur die Mühen und Rückschläge des Aufbaus, sondern auch erhebliche Vorab-Investitionen. Das Lager war schließlich voll mit 2.500 T-Shirts und Tunikas für Kinder und Erwachsene in allen Größen und verschiedenen Stilen und der Verkauf musste erst angekurbelt werden.

Währenddessen jedoch hatte sich längst die nächste Finanzen und Kräfte zehrende Baustelle aufgetan. Das junge Paar, inzwischen bereichert um zwei kleine Söhne, hatte sich entschlossen, den Lebensmittelpunkt aufs Land zu verlegen und einen eigenen Hof zu kaufen. Frank zog es wieder in den Norden und Andrea, die in Berlin aufgewachsen war, freundete sich mit dem Gedanken an, wieder in die Nähe der alten Heimat zu ziehen. Bereits in seiner Hamburger Zeit hatte Frank mit Freunden Ausflüge in die Umgebung gemacht. In der Nachwendezeit waren sie an der Elbe um so manchen altehrwürdigen Hof herumgeschlichen und hatten mit einem gemeinsamen Projekt geliebäugelt.

Der Ursprungstraum materialisiert sich

Beginnend im Wendland mit der Suche nach dem künftigen Platz verliebten sich die beiden alsbald in die weite Auenlandschaft des nördlichen Elbufers. Jedoch erwies sich das Finden des richtigen Objekts als nicht so einfach. Der Kauf eines Hofes, bei dem sie sich bereits am Ziel ihrer Träume wähnten, zerschlug sich, weil einer aus der Erbengemeinschaft schließlich doch nicht verkaufen wollte. Sich erinnernd stöhnt Frank: „Ich dachte schon, wir finden nie den richtigen Hof...!“ Doch schließlich standen die beiden vor dem stattlichen Vierständergebäude am Vockfeyer Elbdeich und – „es war Liebe auf den ersten Blick!“

Nun gab es jede Menge zu tun – neben dem Aufbau des Textilprojekts und der Familie. Drei Jahre dauerte es, um das Haus in einen bezugsfähigen Zustand zu versetzen. Zusammen mit einem Fachwerkspezialisten aus der Region wurde das Gebäude weitgehend entkernt. „Wenn man in der jetzigen Küche stand, konnte man bis unter den First gucken“, erinnert sich Frank. Unsachgemäße Einbauten und falsche Dämmmaterialien wurden herausgerissen und von Grund auf eine neue, behagliche Behausung mit Natursteinen, Ziegeln, Lehm und Holz geschaffen.

2009, kurz vor der Einschulung des älteren Jungen zogen die beiden in ein bewohnbares, aber noch längst nicht fertiges Heim. In Augsburg ließen sie nicht nur ihr altes Leben, sondern auch ihre Agenturkunden und damit ihre Einkommensquelle zurück. Der Webshop für die Textilvermarktung stand zwar, aber in der Idylle am Deich gab es kein Internet. Woher sollte nun das Einkommen für das Leben der Familie und die weiteren Ausbauarbeiten kommen? „Da bin ich ein bisschen blauäugig reingegangen“, resümiert der Familienvater und Lebensbauer nachdenklich.

Doch die Entscheidung erwies sich als stimmig, nach und nach fügten sich die Puzzleteile aller bisherigen Erfahrungen und Lebensträume zusammen.

Der neue Lebens(t)raum füllt sich

In der folgenden Zeit kamen immer mehr Tiere auf den Hof – ungeplant, wie es sich ergab. Frank, dessen Leidenschaft, mit Tieren zu arbeiten, lange brach gelegen hatte, ergriff die Gelegenheit, als eine Bekannte ein paar Skudden loswerden wollte. Die drei Vertreter der kleinen, genügsamen Schafrasse durften die Wiese am Haus mähen – und brachten den Stein ins Rollen, der sich heute als Fundament für ein neues, umfassendes Lebens- und Arbeitskonzept erweist, der Archehof Vockfey. Plötzlich stand Hartmut Heckenroth, der Initiator des Archeprojekts vor der Tür und warb bei den Neusiedlern für seine Idee. In dem naturnahen Landstrich haben sich bereits einige Höfe dem Projekt, alte Haustierrassen zu erhalten, verschrieben. Die Gesellschaft zur Erhaltung alter und gefährdeter Haustierrassen e.V. (GEH), ist die Trägerin der Arche-Bewegung und unterstützt die Projekthöfe mit Information und Beratung bei der Rassenauswahl, Haltung und Vermarktung der Produkte. Im Schulterschluss mit der Verwaltung des Biosphärenreservats wird die Einrichtung von Archehöfen im Zusammenhang mit sanftem Tourismus auch politisch gefördert. In der Elbtalaue mit großem Erfolg: Bereits 16 Archehöfe und zahlreiche Hobby-Tierhalter versammeln einen Genpool von 50 Rassen: Von Hühnern und Gänsen, Schafen und Ziegen, Rindern, Eseln, Schweinen und Pferden bis hin zum Hofhund tummelt sich auf den Höfen ein buntes Volk ansonsten weitgehend ausgestorbener Tiere mit wertvollen Eigenschaften und prägnantem Aussehen, die in der konventionellen Landwirtschaft dem Hochleistungsprinzip oder dem geänderten Geschmack der Verbraucher zum Opfer gefallen sind.

Auf dem Hof von Andrea und Frank gesellten sich zur anwachsenden Skuddenherde nach und nach drei weitere bedrohte Haustierrassen: Eine lebensfrohe Rotte Bunte Bentheimer Schweine wühlt in der Ruine eines ehemaligen Nachbarhofes, eine gemütliche Herde vom Schwarzbunten Niederungsrind mit Kälbern weidet auf der Wiese am Deich. Von weitem könnte man sie mit den gewohnten schwarzweißen Hochleistungsrindern verwechseln, bis der Blick auf das ungewohnt sportliche Euter, Körbchengröße A fällt. „Diese Rinder sind die ursprünglichen Vorfahren der heutigen Holsteiner Schwarzbunten, die geben als Zweinutzungsrind im Jahr gerade 4.000 l Milch, während die heutigen Hochleistungskühe mit den Rieseneutern bis zu 20.000 l produzieren“, erklärt Frank. Schließlich wandern noch drei Diepholzer Weidegänse schnatternd über die kräuterreiche Wiese. Dieses Jahr hat es schlecht geklappt mit dem Nachwuchs, aber im nächsten Jahr soll es auch Weihnachtsgänse geben.

Lebensqualität, die man schmecken kann

Ansonsten verlocken bereits Spezialitäten wie würzige Rotwurst, kräftige Knoblauchsalami oder feuriges Chilischmalz zu kulinarischen Genüssen vom eigenen Hof. Der Raum, in dem der Hofladen entstehen soll, ist bereits in Vorbereitung, an der Straße kündigt ein Schild die Eröffnung an, die für die Saison 2015 geplant ist. Ein kleines Café soll dazukommen, das Wanderer mit und ohne Fahrrad zu Kaffee und Kuchen oder einer herzhaften Bockwurst vom Bentheimer Schwein einlädt. Und schließlich ist im geräumigen Dach noch jede Menge Ausbaureserve, in die auch eine Ferienwohnung für Familien eingeplant ist. Ferien auf dem Bauernhof, mit Tieren zum Streicheln und Füttern wecken bei Andrea Erinnerungen an ihre Kindheit in Süddeutschland, wo sie auf dem Hof der Großeltern und bei den Nachbarsbauern herumtobte. Ansonsten sind die Tiere Franks Bereich – während sie die Textilsparte wieder aufleben lässt. Im oberen Stock liegen sauber eingestapelt die T-Shirts und Tunikas in frischem Design aus Indien, bald werden sie im eigenen Hofladen zu kaufen sein, neben Wurst und Fleisch von den eigenen Tieren. Auch die Wolle der Skudden eignet sich zur Weiterverarbeitung, was weitere Entwicklungsmöglichkeiten eröffnet. Und inzwischen ist der Hof auch über Funk-Internet an die globale Zivilisation angeschlossen.

Aber vor allem genießt die Familie die naturnahe Ursprünglichkeit des Landstrichs und ist gut in das nachbarliche Miteinander eingebunden. Frank arbeitet eng zusammen mit der örtlichen Agrargenossenschaft. „Wir waren freudig überrascht, dass wir landwirtschaftlichen Exoten dort sehr offen und freundlich aufgenommen wurden,“ schildert er den sozialen Neustart. Und Andrea hat in ihrem Beruf als Grafikerin in der Region Fuß gefasst und bekommt nach und nach gute Aufträge. So wurden die Wände im neu entstandenen Archezentrum in Neuhaus ebenso von ihr gestaltet wie eine informative Broschüre für das Biosphärenreservat.

Dass sie tatsächlich in ihrem Traum angekommen sind, erhellt eine Erkenntnis, als sie das Haus bereits längst gekauft hatten. Eine alte Kneipe in der Nachbarschaft weckte bei Frank die Erinnerung, dass dies genau die Gegend war, durch die er seinerzeit mit den Freunden gestromert war und von der er Andrea vorgeschwärmt hatte. Nun machen die beiden es sich zur Herzensaufgabe, die Schönheit dieses Fleckchens Erde zu erhalten und diesen Schatz mit anderen Menschen zu teilen.