Lebensfülle in Nudelform

Simone Walter Annett Melzer (Fotografie)

Wie Präsente sehen sie aus – die schön verpackten handgemachten Spaghetti und Bandnudeln aus der Nudelwerkstatt von Angelika Wilke. Die 19 Sorten in allen Farben von Gelb über Orange-,  Rot- und Grüntöne bis hin zu schwarz erzählen dem Gaumen auf genussvolle Weise die Geschichte einer sinnenfrohen, mutigen Frau und ihres bewegten Lebens.

  „Als ich das erste Mal die Gewürze kriegte, hab ich geheult – vor lauter Rührung über die tollen Farben“, schwelgt Angelika vor ihrem Gewürzschrank. Hier lagern 20-kg-Säcke leuchtender Pulver, die nicht nur das Auge, sondern auch die Nase bezirzen: Rosmarin und Salbei, Basilikum und Knoblauch, Curcuma und Chili, Rote Bete und Steinpilz lassen schon in Vorfreude das Wasser im Mund zusammenlaufen. „Immer, wenn ich nudle, kriege ich Lust auf Nudeln“, lacht die Teigwerkerin. Und die schwarzen Strippen, die aussehen wie Lakritzschnüre? „Das sind Sepianudeln“, erfahren wir, „Sepia ist die Tinte vom Tintenfisch.“ Und schnell wird die Skepsis der Unkundigen pulverisiert: „Stell dir dazu rosa Lachs, weiße Sahnesoße und grünen Brokkoli vor. Oder Kirschtomaten, bisschen angedünstet, und frischen Spinat – hmmm!“



Gourmetgenuss zum Freundschaftspreis

Mit zwei Teigknetern produziert Angelika zwei Tage in der Woche die Teige für alle Sorten – eine trockene Krümelmasse, die noch wenig vom späteren Produkt ahnen lässt. Die Nudelmaschine presst das amorphe Gebrösel über eine Förderschnecke durch die Matrize mit der gewünschten Nudelform. Heraus kommen Angelikas schöne Spaghetti und Bandnudeln, die anschließend in kleinen Bündeln für 24 Stunden in den Trockenschrank wandern. Ein bis zwei Tage verbringt sie dann damit, die bunten Schätze von Hand einzutüten, mit dem Etikett zu verschließen und die Chargen versandfertig zu machen.

Alle Kräuter und auch der Hartweizen kommen aus kontrolliert ökologischem Anbau. Diese Qualität ist der Überzeugungstäterin wichtig, obwohl „die Kräuter sechs- bis zehnmal teurer sind als konventionell erzeugte.“ Der Hartweizen wird in Italien angebaut und ist ein anspruchsvolles Gewächs: „Hartweizen wächst nur auf speziellen Böden in speziellen Regionen“, weiß Angelika.

Trotz der hochwertigen Rohstoffe und der aufwendigen Handarbeit sind die Nudeln der Handwerkerin nicht teurer als die industriell hergestellte Ware im Naturkostregal. Und das soll auch so bleiben: „Ich halte den Preis seit zehn Jahren. Und ich möchte die Nudeln auch vom Konzept her nicht teurer verkaufen“, betont die Berlinerin, die 2003 anfing, mit den köstlichen Strippen ihre Existenz auf einem Hof in der Altmark aufzuziehen. Dafür, dass jeder sich diesen handgemachten Genuss leisten kann, verzichtet Angelika auf den Vertrieb über den Großhandel, so entfallen die Mehrkosten durch den Zwischenhandel. Die Nudeln bringt sie ab Hof direkt in die Geschäfte der Region, und per Paketdienst werden sie in kleine Hofläden und Biosupermärkte in Großstädte geliefert – von Lübeck bis an den Bodensee.



Mut zum neuen Business

Immer mal wieder kommen interessierte Kunden, die Angelika mit ihren Gourmetnudeln infiziert hat, zur Besichtigung ihrer kleinen Werkstatt. Und es rührt sie, die in ihrer Lebensmitte mit dieser Unternehmung neu gestartet ist, welche Anerkennung ihr entgegenschlägt: „Da kommen tolle, gestandene Frauen, die sagen 'Ich bewundere Sie, Sie sind so mutig!'“ Knapp resümiert sie: „Ich war einfach zur richtigen Zeit am richtigen Ort mit der richtigen Idee. Und ich hab viel Glück gehabt.“ Dazu Herzblut und Entschlossenheit. Sie setzt nach: „Meine Eltern hatten auch Mut, als sie 61 mit mir als Baby von Ost- nach West-Berlin über die Grenze geflohen sind und dann wieder bei null anfangen mussten. Das hat sich anscheinend fortgesetzt.“

Hilfe zur Selbsthilfe

Sie wuchs in Berlin-Rudow auf, „ein Bezirk, der von der Mauer umzingelt war“. Die Situation war im Alltag präsent, aber die Familie unternahm regelmäßige Wochenendtouren über die Transitstrecke nach Bremen und Bayern. Die Schule sensibilisierte Angelika früh für Politik. Engagierten Lehrern, die in den Siebzigern mit rotem Schal Flagge zeigten, war es ein Anliegen, Arbeiterkinder zu fördern. „Das hat mich so beeindruckt, daß ich, seit ich 16 war, bei den 1. Mai-Demos mit der GEW mitgelaufen bin.“ Ihr politisches Bewusstsein bestärkte die junge Frau, den Beruf der Erzieherin zu erlernen und sich auf einer neugegründeten Erzieherschule zu bewerben: „Ich saß mit anderen Bewerberinnen vor dem Schuldirektor und die Frage, warum willst du Erzieherin werden, beantwortete ich aus Überzeugung mit: 'Weil das ein politischer Beruf ist und ich politisch tätig sein will, weil ich was bewegen will!' Sie lacht augenzwinkernd: „Ich bekam den freien Platz in der Schule. Neben mir saßen Mädels und antworteten, ‚weil sie kleine Kinder lieben würden', die mussten wieder gehen ..!“

Das Thema Selbständigkeit wurde ihr in den folgenden Berufsjahren zu einem Kernanliegen: „Ich hab im Kiez in einer sozialen Initiative mitgearbeitet, mit Hausbesetzern, Kindern und Jugendlichen zu tun gehabt, später mit behinderten Erwachsenen. Immer ging es mir darum, Menschen, die Hilfe benötigen beziehungsweise wollen, zu unterstützen, ihnen Hilfe zur Selbsthilfe zu vermitteln“. Neue Herausforderungen, wie die Arbeit mit Schwerstbehinderten oder schwierige Situationen in den Teams, brachten sie manchmal an ihre Grenzen, aber erweiterten stetig ihren Kompetenzhorizont. Die Haltung „Hab ich noch nie gemacht, aber man wächst an seinen Aufgaben“ führte sie immer wieder auf völlig neue Wege.

Ein Teilzeitjob ließ ihr genug Raum für neue Erfahrungen. Sie ging zum Trommeln, lernte afrikanischen Tanz und – Kochen. Ein Kochbuch empfahl, man solle möglichst Saisongemüse verwenden. Mehr und mehr empfand sie eine klaffende Bildungslücke: „In meiner Familie war ich die dritte Generation Großstadt – was wußte ich, was Saisongemüse ist, geschweige denn, wie Weizen oder Dinkel aussieht“, erinnert sie sich. Und schlussfolgerte: „Du musst jetzt mal aufs Land.“

Neue Horizonte


Über die Organisation WWOOF – Willing Workers on Organic Farms, die Hilfswillige gegen Kost und Logis mit helfersuchenden Biohöfen zusammenbringt, fand sie einen Biohof in der Göhrde, der unter anderem Erdbeeren, Spargel und Tomaten anbaute. Und nicht nur die Unkenrufer in Berlin, die prognostizierten „Das hältst du nicht lange aus!“ wurden widerlegt, sie verblüffte auch die Landleute, die glaubten, Städter könnten nicht arbeiten. Schnell fuchste sie sich in alle Herausforderungen des Bauernlebens ein. Mitdenken, Hand anlegen, frühmorgens barfuß raus in die Kälte und die Beregnung verändern – der beherzte Einsatz in jeder Situation und hart am jeweiligen Klima prädestinierte sie für die kommenden zehn Jahre im benachbarten Wendland. In dem von kleinen Höfen und vielfältigen soziokulturellen Aktivitäten geprägten Landstrich arbeitete sie auf einigen Höfen, mal in der Landwirtschaft oder Vermarktung, mal als Betreuerin in einer Behinderteneinrichtung.  Angelika sog Erfahrungen auf, traf ihren künftigen Lebenspartner und nahm sich schließlich Zeit für eine grundlegende Neuorientierung.

Auf einer Ökomesse im Landkreis faszinierte sie die Vorführung einer Nudelmaschine. Die Erkenntnis, daß Nudeln machen im „Prinzip so einfach“ sei, ließ sie nicht mehr los. Parallel zu einer Ausbildung an der Uni Lüneburg in Systemischer Familientherapie, begann sie zu recherchieren: nach Rohstoffen und Maschinen, sinnierte über Vertriebswege. Und merkte bald, als Nebenbeschäftigung, wie angedacht, funktioniert das nicht: „Entweder richtig oder gar nicht.“

Von Null zur Nudelwerkstatt

Ein Ort für das neue Leben mit Mann und Unternehmung wollte gefunden werden. Doch zunächst türmten sich die Schwierigkeiten. Zum übersichtlichen Eigenkapital kam die BSE-Krise, was sich für die von Frieder geplante Mutterkuhhaltung als fatal beim Einwerben von Förderung und Kredit erwies. Und auf die Finanzierung von Angelikas neuem Business mochten sich die Banker auch nicht einlassen: „Was, Sie als Erzieherin wollen jetzt was ganz anderes machen!?“ Schließlich waren es die Mitarbeiter der GLS-Bank, erfahren in der Förderung ökosozialer Projekte, die das in der engagierten Frau steckende Potenzial  erkannten und den Hof in dem kleinen altmärkischen Dorf Hilmsen mitfinanzierten.

Harte Aufbaujahre standen bevor: „Im Wohnhaus funktionierte die Schwerkraftheizung mit dem gusseisernen Allesbrenner in der Küche und das Dach war in Ordnung – nichts anderes ging. Kein Wasser, kein Strom. Fenster nicht zu öffnen und einfach verglast.“ Im Januar 2001 zogen sie ein und krempelten die Ärmel hoch: „Totalsanierung wurde mein Fulltimejob“. Nach einem Existenzgründerseminar ließ sich Angelika im Dezember 2002 Nudelmaschine und Trockenschrank liefern und die Produktion konnte starten. „Die erste Maschine machte 20 kg Nudeln in der Stunde, da dachte ich erst, um Gottes Willen, wo soll ich die denn verkaufen!“ Doch bereits drei Monate später musste Angelika das Gerät gegen eine Maschine mit dem dreifachen Durchsatz umtauschen – „Es ging von null auf hundert gleich los!“

Die ersten Chargen waren noch dem Experimentieren und der Verkostung gewidmet. „Ich war einmal in der Woche beim Turnverein in Clenze und hatte die Nudeln zum Testen mitgebracht.“ Die Frauen waren begeistert und die detaillierten Rückmeldungen halfen Angelika, die optimalen Rezepturen für ihre vielen Nudelsorten auszutüfteln. Am Anfang hatte sie fünfzehn Geschmacksvarianten im Programm, jeweils als Spaghetti und Bandnudel. 2006 kamen auf vielfachen Kundenwunsch vier weitere Sorten hinzu.

Aus der Altmark auf den Markt

Mit dem Korb voller Nudeln in der neuentwickelten schönen Verpackung fuhr sie nach Berlin zur Bio Company. „Das waren damals vier Bio-Supermärkte. Ich bin zum Filialleiter in Steglitz, der hat gleich eine Kollegin aus einem anderen Shop angerufen. Beide waren von den Nudeln begeistert und von meinem Engagement beeindruckt, und nahmen sie in ihr Programm“. Jedes Mal, wenn sie eine neue Filiale aufmachten, bestellten sie seither ein Kontingent Nudeln. Längst bieten inzwischen auch andere Biosupermärkte bundesweit die Nudeln in ihren Läden an.

Über die Vermarktungsgemeinschaft Wendland-Kooperative und die Kulturelle Landpartie wurde von Anfang an die Region mit den bunten Botschaftern aus der Altmark versorgt. Und Angelikas anfängliche Befürchtung, daß „die Norddeutschen ja eher Kartoffeln und keine Nudeln essen“, löste sich schnell in Wohlgefallen auf, als wäre der Norden von ihren kulinarischen Kreationen aus dem Dornröschenschlaf geküsst worden.

Januar 2004 stand sie erstmals auf einer Messe – der Grünen Woche in Berlin, mit dem Biohöfe-Gemeinschaftsstand. Ihre Nudeln weckten Interesse und sie erhielt den Tipp, mal auf die Bio-Fach zu gehen, die internationale Unternehmermesse für Bio-Lebensmittel in Nürnberg. „Wie, Bio-Fach!?“ – Dass Angelika noch nie von dieser Messe gehört hatte, hinderte sie nicht, für den in drei Wochen beginnenden Mega-Event einen Stand zu ergattern. Ein krankheitsbedingter Ausfall beim Aussteller Bioland machte die Chance möglich. Ihre Teilnahme wurde ein voller Erfolg. „Vier Tage war ich von früh bis spät beschäftigt und hatte nicht eine Pause“, erinnert sie sich. Die mitleidigen Aussteller vom Nachbarstand sorgten dafür, dass sie nicht verhungerte, während sie Geschäftskontakte knüpfte. Seither besucht sie diese Messe jedes Jahr mit ihren Nudeln, inzwischen am Gemeinschaftsstand der Biohöfe von Sachsen-Anhalt und erhält immer wieder Anfragen für spezielle Nudelproduktionen. 


Regional-globale Vernetzung

Beim dritten Messebesuch in Nürnberg kam ein Unternehmer aus Spanien auf sie zu. Sein Familienbetrieb in Galizien erntet Algen aus dem Atlantik, bereitet sie auf und kooperiert mit Lebensmittelherstellern für Algenprodukte. Und wünschte sich Algennudeln aus Angelikas Werkstatt. „Ich bin viel zu klein“, wehrte die Einzelunternehmerin zuerst ab, und verwies auf die größere Konkurrenz. Es half nichts. Ein Jahr blieben die Galizier hartnäckig an ihr dran, dann war sie bereit, eine Probe herzustellen. Die die Auftraggeber überzeugte, mit dem Hinweis, daß sie auch andere Produzenten ausprobiert hätten, jedoch „die Nudeln aus Ihrer Nudelwerkstatt waren die besten“.

Vor der Vertragsunterzeichnung hatte Angelika eine Woche lang schlaflose Nächte vor dem was da an Unwägbarkeiten auf sie zurollen könnte. Schließlich stand ein Vertrag, mit dem sie gut leben konnte. Die Auftraggeber übernahmen die ganze Abwicklung und bezahlten im Voraus, sie musste „nur“ produzieren und verpacken. Die Spanier verkaufen die Nudeln unter anderem bis nach Japan. Im fernen Osten kommen ihre Algennudeln gut an, aber hierzulande haben offenbar selbst die Sushi-Gourmets die Spur noch nicht aufgenommen.


Neue Geschmäcker und Perspektiven

Einstweilen hat die Nudelvirtuosin schon mit vielen anderen Geschmäckern experimentiert – meist im Auftrag oder auf Anregung von Kunden. Ein deutsch-japanisches Unternehmen ließ Teenudeln herstellen, eine Pilzzüchterin acht Sorten Pilznudeln. Auch Aronia, Gojibeeren und Maroni wurden schon in exotische Nudelgenüsse verwandelt. Die Rosennudeln erfüllten leider nicht die Hoffnungen der Auftraggeber: „Die gerebelten Rosenblätter haben wunderbar geduftet – aber als die vorher schönen rosa Nudeln aus dem Trockenschrank kamen, waren sie grau“, bedauert Angelika.

Auf vielfachen Kundenwunsch hat Angelika vier weitere Sorten in ihr Standardprogramm aufgenommen: Zitrone, Bärlauch, Dinkel und Schokolade. Auch über eine neue Nudelform denkt sie nach – die Matrize für Spirelli wartet schon auf ihren Einsatz.

Durch zahlreiche Berichte in den Medien ist Angelika inzwischen ganz gut bekannt – „das Regional- Fernsehen, der MDR, war auch schon da!“ Nach einer Radiosendung trudelten gar fünfzig Bestellungen interessierter Neukunden ein. Das Versenden kleiner Mengen an Endverbraucher ist zwar viel Extraarbeit, macht der Nudelfrau aber trotzdem Freude: „Was viele besticht, ist der persönliche Kontakt und dass ich mich meist auch gleich melde.“ Von einer Weizenallergikerin erhielt sie eine Postkarte, sie habe seit zwanzig Jahren keinen Weizen gegessen und konnte einfach nicht widerstehen: „Ich habe Ihre Nudeln gegessen und es ist mir alles gut bekommen – machen Sie weiter so!“

Trotz der Mithilfe der Familie ist Angelika im Alltag allerdings so ausgelastet, dass derzeit kaum Spielraum für weitere Experimente bleibt. „Zurzeit bin ich meist ausverkauft.“ Die Nudel ist Angelikas Lebensschwerpunkt und wirtschaftliche Basis geworden.

Doch hinter der Nudelmaschine sinniert sie: „Weißte, ich könnt mir auch vorstellen, alles hier zu loszulassen und nochmal von Null anzufangen.“ Und mit einem Funkeln in den Augen verrät sie: „Also, Puppenspielerin würd' ich schön finden!“



Und hier geht es zum Shop der Nudelwerkstatt.